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5.3.1 Lebensdauerabschätzung aus Betriebsdaten

 Der „große Bruder“ in Form der Elektronik überwacht auch das Auto. Er registriert verschlissene Bremsen, einen langsam schlapp machenden Reifen, einen unwilligen Katalysator und schleichende Abweichungen im Verhalten des Motors. Das erhöht die Sicherheit. Wir können nun vor dem endgültigen Ausfall, der ja immer zum ungünstigsten Augenblick eintritt, einen Austausch oder eine Reparatur vornehmen lassen. Aber es entsteht auch das Gefühl des Ausgeliefertseins. Fragen kriechen in uns hoch. Will die Werkstatt vielleicht ein betriebsfähiges Bau-teil zum Zwecke der Gewinnmaximierung austauschen? Muss der Austausch der gesamten teuren Anlage erfolgen oder wäre nicht mit einem kleinen Handgriff eine Reparatur möglich? Soll man dem Tausch gegen eine neue, verbesserte Version zustimmen oder ist dann mit einem anderen Versagensmodus zu rechnen, der den versprochenen Vorteil zunichte macht? Hier ist Vertrauen zur Werkstatt die Grundlage des Erfolgs und der Zufriedenheit beider Partner.

Betreiber einer Gasturbine und OEM bzw. betreuender Überholshop befinden sich in ähnlicher Lage. Deshalb heißt es gerade hier: „…drum prüfe wer sich ewig bindet…“. Auch ein Wechsel dieser Vertrauensgemeinschaft kann später eine schmerzliche Zäsur sein.

Selbstverständlich werden Bauteile einer Gasturbine - entsprechend ihren normalerweise zu erwartenden Betriebsanforderungen - so ausgelegt, dass sie möglichst lange Laufzeiten ausreichend sicher erreichen. Dieses “Lifing“ umfasst als wichtige Schritte die möglichst genaue Bestimmung der zu erwartenden Betriebsbeanspruchungen und deren Berücksichtigung in der Auslegung zur Freigabe der sicheren Lebensdauer. Das gelingt umso genauer, je mehr Erfahrungen (Messsungen) bei vergleichbaren Maschinen und Betriebsbedingungen vorliegen.

Wird aus den Betriebsdaten (z.B. zeitlicher Verlauf von Drehzahlen und Temperaturen, Lastwechsel, "Bild 5.1-3"), die an einer Maschine kontinuierlich gemessen wurden, die verbrauchte Lebensdauer und damit auch die Restlebensdauer jedes individuell lebensdauerbegrenzten Bauteils abgeschätzt, spricht man von “Life Monitoring“(Kapitel 5.1.1). Voraussetzung ist die ausreichend genaue Kenntnis der einzelnen Bauteilbelastungen und der zugehörigen Algorithmen sowie eine kontinuierliche Erfassung der notwendigen Betriebsdaten, um daraus den Lebensdauerverbrauch zu berechnen. Bei “Eichung“ der Berechnungen am tatsächlichen Lebensdauerverbrauch ist eine Nachuntersuchung gelaufener Teile möglich (“Sampling“). So werden z.B. im Flugtriebwerksbau gelaufene Rotorteile (Scheiben, Spacer) der Maschine entnommen und mit gezielten Belastungen (zyklische Schleuderversuche) die Restlebensdauer ermittelt. Diese wird dann mit den Berechnungen verglichen. Man erhofft sich so genauere Angaben über die Auswirkung unerwarteter Schwachstellen und Schädigungen auf die Lebensdauer der Bauteile.

Inzwischen lassen viele Betreiber auch von Industriegasturbinen (schwere Bauweise und Derivate) das Life Monitoring und Life Management bereits über Funk “Online“ zentral durchführen. Ein entsprechender Service wird heute vom OEM oder unabhängigen Institutionen angeboten (Lit.5.3-1).

Lifing und Life Monitoring sind Voraussetzungen für ein erfolgreiches “Life Management“. Darunter versteht man die individuelle Lebensdauerüberwachung der Bauteile, die Ermittlung ihres momentanen Zustandes und die Festlegung der Tauschintervalle. Das Auswechseln von Bauteilen mit abgelaufener Lebensdauer läuft unter dem Begriff “On Condition“ (Lit 5.3-2). Natürlich ist ein solches Vorgehen nur praktikabel, wenn es mit sinnvollen Überholintervallen einhergeht und der Aufwand angemessen bleibt. Bauteile wie Rotorscheiben sind entsprechend der notwendigen niedrigen Ausfallwahrscheinlichkeit in der weitaus überwiegenden Zahl fehlerfrei und würden noch mehrere Überholintervalle ermöglichen. Deshalb denkt man seit langem darüber nach, wie solche Teile bei akzeptabler Sicherheit wiederverwendbar sind. Das wäre dann möglich, wenn z.B. mit genügender Sicherheit technische Anrisse ( "Bild 5.3-1") zerstörungsfrei gefunden werden ( "Bild 5.3-3") und sich danach eine ausreichend lange (bruchmechanisch abgeschätzte) potenzielle Risswachstumsphase nutzen lässt. Voraussetzung ist also das hinreichend zuverlässige und empfindliche Prüfverfahren. Ein solches ist zur Zeit für die praktische Nutzung nicht vorhanden. Es hängt also von der Weiterentwicklung der Prüfverfahren ab, wann dieses für den Betreiber äußerst kostensparende Prinzip (“Retirement for Cause“, "Bild 5.3-2") zur praktischen Anwendung kommen kann.

Bild 5.3-1

"Bild 5.3-1": Der Trend zu immer höheren Leistungen und Wirkungsgraden zieht nicht selten auch eine Steigerung der Bauteilbelastungen nach sich. Im konservativen Ansatz der Lebensdauerfestlegung bei zyklisch belasteten Bauteilen wie Rotorscheiben, geht man von der Zeit bis zum Beginn der Ermüdungsrissbildung aus. Als Kriterium dient der technische Anriss. Es handelt sich um einen Oberflächenriss mit 0,8 mm Länge. Je höher die Beanspruchung, umso kleiner muss die Schädigung oder Schwachstelle im Inneren oder an der Oberfläche sein, von der aus ein Ermüdungsriss wachsen kann. Besonders hoch belastete Bauteile moderner Maschinen (z.B. Rotorscheiben) lassen an einer ausreichend großen Schwachstelle bereits vom ersten Belastungszyklus ein Risswachstum im Mikrobereich erwarten. Dies kann dazu führen, dass die nutzbare zyklische Lebensdauer bis zur Nachweisgrenze des Risses relativ kurz ist.

Es gibt weder Werkstoff noch Bauteil, bei dem man sicher sein kann, dass es keine Fehler im Bereich der Nachweisgrenze der Prüfverfahren aufweist ( "Bild 5.3-3"). Deshalb muss man zur Sicherheit davon ausgehen, dass tatsächlich ein anrissfähiger Fehler in einer hochbeanspruchten Zone vorhanden ist. Die sichere Lebensdauer wird bruchmechanisch auf einen hypothetischen Rissfortschritt bezogen. Sie wird so festgelegt, dass noch genügend Sicherheit bis zu einer Risslänge die zum Versagen (spontaner Bruch, instabiles Risswachstum) des Bauteils führt, besteht. Man spricht von der kritischen Risslänge.

Ein Ansatz für die Auslegung der Lebensdauer eines Bauteils verlängert hypothetisch die zulässige Lebensdauer um den Risswachstumsanteil bis zum technischen Anriss. Selbst dann sollte man immer noch ausreichend von einem spontanen Versagen entfernt sein. Eine solche Vorgehensweise wurde aber bisher nur bei Risikoabschätzungen im Rahmen von Schadenfällen bzw. akuten Problemen bekannt. Sie hilft auch bei Entscheidungen zu bereits verbauten Teilen. Wenn es sich beispielsweise um Sonderaktionen wie Teiletausch mit einer sofortige Demontage der Maschine oder die Festlegung von Inspektionsintervallen handelt.

Bild 5.3-2

"Bild 5.3-2": Das “Retirement for Cause“ Konzept bedeutet, dass Bauteile erst wenn es ihr Zustand als Folge einer Schädigung notwendig macht, ersetzt werden (Lit 3.3-4). So will man insbesondere das Lebensdauerpotenzial des individuellen, durch zyklische Ermüdung lebensdauerbegrenzten Bauteils nutzen und Ersatzteilkosten minimieren (Lit 3.3-3). Kommerziell besonders interessant sind Rotorkomponenten wie Scheiben von Spitzenlastmaschinen die viele Zyklen ansammeln. Aufgrund der statistischen Sicherheit kann es erforderlich werden, einen Großteil der Scheiben auszutauschen (siehe Diagramm unten links). Die überwiegende Zahl hat aber noch längst nicht (Diagramm oben) eine bedenkliche Schädigung bzw. ihre potenziell nutzbare Ermüdungslebensdauer um die MTBF (Mean Time Between Failure, Lit 0-4) erreicht.

Voraussetzung für das Retirement for Cause Konzept ist eine ausreichend sichere, im praktischen Einsatz geeignete, zerstörungsfreie Prüfung (ZfP) der Bauteile. Die heute serienmäßig verfügbaren Verfahren wie UltraschallRöntgen- und Wirbelstromprüfung sind offenbar noch nicht ausreichend sicher (Diagramm unten rechts). Das verlockende Konzept konnte sich deshalb nicht durchsetzen.

Bild 5.3-3

"Bild 5.3-3": (Lit. 5.3-3 und Lit. 5.3-4): Die Diagramme zeigen Trends der Auffindwahrscheinlichkeit (engl. POD = Probability of Detection) von Oberflächenanrissen. Sie lassen eine erste Einordnung der Zuverlässigkeit der häufigsten zerstörungsfreien Prüfmethoden (ZfP) im Serieneinsatz zu. Es handelt sich um Versuchsergebnisse an Proben aus Aluminium mit kleinen künstlichen Schwinganrissen. Generell gilt, dass sich die Rissgröße bzw. Risslänge und Risstiefe verfahrensspezifisch unterschiedlich auswirken. Eine POD von 100% ist offenbar nur in besonders günstigen Fällen zu erwarten. Das heißt, dass für hochbelastete Bauteile gefährliche Fehler im Millimeterbereich mit einer zerstörungsfreien Prüfung nicht absolut sicher auszuschließen sind (Diagramm oben). Nur von einer Kombination mehrerer Maßnahmen wie unterschiedlichen ZfP, sind die geforderten hohen Sicherheiten zu erwarten.

Am „unzuverlässigsten“, was die POD kleiner Oberflächenrisse anbetrifft, hat sich im vorliegenden Fall die Röntgenprüfung erwiesen (Diagramm unten links). Die beste POD zeigte bei kleinen Oberflächenrissen die Ultraschallprüfung.

Weil die dargestellten Literaturangaben bereits älter sind, ist davon auszugehen, dass Ultraschall- und Wirbelstromprüfungen mittlerweile Verbesserungen der Technik und der Auswertung erfahren haben. Besonders der Einsatz von Computern für die Auswertung dürfte die POD in einigen Fällen (Ultraschallprüfung, Wirbelstromprüfung) deutlich erhöht haben.

Trotzdem ist auch hier bei Teilen ohne Befund nicht von absoluter Fehlerfreiheit auszugehen.

Literatur zu Kapitel 5.3

5.3-1 Land Instruments International, „Combustion Turbine Blade Temperature Analysis“, www.landinst.com, 21.Sept. 2006.

5.3-2 M.P.Boyce, C.B. Mehr-Homji, B. Wooldridge, „Condition Monitoring of Aeroderivative Gasturbines“, ASME Paper 89-GT-36.

5.3-3 R.E.Green Jr, „Non-Destructive Methods for the Early Detection of Fatigue Damage in Aircraft Components“, AGARD Lecture Series No. 103 „Non-Destructive Inspection Methods for Propulsion, System and Components“, 23-24 April 1979, London, UK, und 26-27 April Milan, Italy, Seite 6.1-6.31.

5.3-4 W.D.Rummel, P.H.Todd Jr.,R.A.Rathke, W.L.Castner , „The Detection of Fatigue Cracks by Nondestructive Test Methods“, Zeitschrift „Materials Evaluation“., 1974, No. 32, Seite 205-212.

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